Antike Philosophie zur Lebensbewältigung in Zeiten von Corona? Gedanken von Lateinschüler*innen der Maturaklassen

Im Zuge des Moduls „Philosophie – Formen der Lebensbewältigung“ beschäftigten sich die Maturaklassen im Fach Latein mit den zwei bedeutendsten philosophischen Richtungen des Hellenismus, der STOA und der Lehre des EPIKUR:                                                                 

„Couragierter Gemeinschaftssinn trifft auf unverhohlene Egomanie.“ So beschrieb Friedrich Maier, renommierter Lateinprofessor und Fachdidaktiker, in seinem Festvortrag 2020 „Der Bürger zwischen zwei Lebensmodellen“ die beiden philosophischen Grundpositionen Stoa und die Lehre des Epikur überspitzt (Circulare 1/2020, S.11, pdf).  

Mit diesen Philosophien und deren Antworten auf der Suche nach dem Lebensglück beschäftigten sich auch die Lateinschüler*innen der Maturaklassen. Nachdem sie die letzte Schularbeit der Maturaklasse erfolgreich gemeistert hatten, waren noch etliche Schüler*innen bereit, sich ausgehend von antiker Philosophie mit der aktuellen Situation zu Zeiten von Corona zu beschäftigen. Die Fragen an die Schüler*innen waren, welcher Richtung sie sich am ehesten zugehörig fühlen, und inwieweit der jeweilige Standpunkt Hilfestellung geben könnte, die (persönliche) Krise der aktuellen Pandemie zu meistern.

Im Folgenden einige Kommentare der Schüler*innen, die Ende April 2021 verfasst wurden:

Klara, 8M: Zivilcourage, Zusammenhalt, Gemeinschaftssinn – all das sind Werte, die im Kampf gegen die Pandemie mehr denn je im Mittelpunkt unseres Lebens stehen sollten. Die philosophische Lehre der Stoa gibt uns einen moralischen Anstoß, diesen Idealen zu folgen und ihnen unser individuelles Denken und Handeln mit Blick auf die Ganzheit der Welt, auf das große Ganze, anzupassen. Im Zentrum der stoischen Lehre stehen die „virtus“, die Tugend, und die Vernunft als das höchste und oberste Gut. Vernünftig handeln – auch diese Idee lässt sich nur zu gut auf die derzeitige Krisensituation übertragen: Vernünftig handeln, das heißt, gewisse Grenzen einzuhalten, die die Pandemie uns auferlegt, es heißt, Normen und Regeln zu beachten, die die Gemeinschaft schützen können, es heißt, Verantwortung zu übernehmen für die eigenen Entscheidungen, es heißt, Launen und Affekte zu kontrollieren und aus Selbstgenügsamkeit leben. Die Stoa lehrt uns, den Fokus unseres Seins und Denkens von uns selbst auf die ganze Welt zu übertragen und als Teil dieser Welt unsere Aufgabe zu erfüllen, damit diese zum Wohl der Gesamtheit ablaufen kann.
Die stoische Vorstellung des Kosmos als ganzheitliches System, das einem strikten Plan folgt und in dem es weder Zufall noch wirkliche Willensfreiheit gibt, erinnert uns ebenfalls an die derzeitige Situation: Die unbeschränkte Freiheit des eigenen Willens, ein scheinbar unantastbares Menschenrecht, ist uns durch die Pandemie genommen worden. Der Ablauf des Alltags folgt nun einschränkenden Gesetzen und Vorgaben, einem strikten Plan, der darauf abzielt, wieder zur Normalität zurückzuführen. In dieser Situation drängt sich uns unausweichlich die Frage nach der Gewichtung der einzelnen Ideale auf: Das Recht auf absolute Willensfreiheit über die Gesundheit der Mehrheit? Die Möglichkeit, sich persönlich uneingeschränkt nach Wunsch und Belieben auszuleben, über das Leben der Risikogruppe? Die Stoa würde dieses moralische Dilemma mit dem zentralen Gut der Vernunft beantworten – Vernunft, die uns als Maßstab und Richtschnur dienen soll und die uns auch in dieser Krise lenken und leiten soll. Nicht aus Eigennutz, nicht zum persönlichen Vorteil sollen wir handeln, sondern aus allgemeiner Menschenliebe, aus Wohltätigkeit, aus Milde und Sanftmut. Mit diesen Grundprinzipien überliefert uns die Stoa eine Jahrtausende alte philosophische Lehre, Normen und Werte, die bis heute Gültigkeit besitzen, aus denen wir gleichermaßen Kraft zur Bewältigung der Situation und Hoffnung auf das Ende der Pandemie schöpfen können. Denn, und hier beziehe ich mich abschließend auf ein Zitat des Stoikers Marc Aurel: „Die Fähigkeit, glücklich zu leben, kommt aus einer Kraft, die der Seele innewohnt.“                                                                                                                             


Johanna, 9L: Auch wenn ich der Stoa in vielen Punkten nichts abgewinnen kann, bin ich fest davon überzeugt, dass wir diese Pandemie um einiges besser gemeistert hätten, hätten wir nach deren Vorstellungen gehandelt.

Zu Beginn der Pandemie war das auch größtenteils der Fall. Solidarität mit betroffenen Gruppen sowie Engagement für die Gesellschaft wurden ausgedrückt durch Nachbarschaftshilfe, Balkonkonzerte und Co. Jeder und jede verhielt sich tugendhaft, nahm die von der Regierung verordneten Maßnahmen ernst und innerhalb von drei Monaten waren die Neuinfektionen pro Tag teilweise bei null angelangt.

Das Virus galt als besiegt, und gemeinsam mit dem Sommer kehrte auch der Egoismus zurück – mit dem Unterschied, dass er blieb, als es wieder kälter wurde und die Infektionszahlen stiegen. Mehr und mehr „besorgte“ Bürgerinnen und Bürger entpuppten sich als Querdenker*innen und gehen seit November beinahe wöchentlich ohne Maske und Mindestabstand auf die Straße. Die Gesellschaft ist gespalten, nur noch die wenigsten verhalten sich solidarisch oder tugendhaft. Und genau ein halbes Jahr nach Beginn der zweiten Welle sind die Intensivstationen immer noch überfüllt, die Krankenpfleger*innen maßlos überfordert und viele, viele Menschen psychisch am Ende.

Ich verstehe alle, die sagen, dass sie nicht mehr können, alle, die genervt sind. Aber ich bin weiterhin fest davon überzeugt, dass wir diese Pandemie um einiges besser gemeistert hätten, hätten wir durchgehend nach den Vorstellungen der Stoa gehandelt.        


Charlotte, 8S: Am ehesten fühle ich mich dem Epikureismus zugehörig. Zum einen, da ihre Weltanschauung und ihre Vorstellung, die Götter betreffend, meinem Bild der Welt und des Glaubens ziemlich ähnelt. Denn anders als die Stoiker glauben die Epikureer nicht an das Schicksal, sondern ausschließlich an den Zufall. Ebenfalls beeinflussen die Götter laut den Epikureern weder unser Leben, noch die Ereignisse auf der Welt. Besonders diesen Punkt kann ich nachvollziehen, da ich selbst nicht den stärksten Glauben an Gott habe.

Ein weiterer Punkt, warum ich mich eher für den Epikureismus entscheiden würde, ist der, dass sie an die Sterblichkeit glauben. Auch die Aspekte des freien Willens und des maßvollen Genusses sind meiner Meinung nach ansprechend.

Um persönliche Krisen der aktuellen Pandemie zu meistern, können diese philosophischen Strömungen durchaus eine gewisse Hilfe sein. Beispielsweise kann einem das Motto des Epikureismus “Carpe diem!” (“Nütze den Tag!”) eine gewisse Motivation schenken, trotz der schwierigen Situation, das Beste aus jedem Tag herauszuholen. Ebenfalls kann dieses Zitat dazu anregen, Kleinigkeiten, die einen schönen Tag ausmachen, schätzen zu lernen.                  


Clarissa, 8MS: Ich glaube, dass es gerade in dieser jetzigen schweren Zeit wichtig ist, sich mit philosophischen Fragen und Theorien auseinanderzusetzen. Für viele Menschen ist es momentan nicht einfach, Halt oder gar Geborgenheit zu finden. Vielmehr fühlen sie sich eingeengt, im Stich gelassen oder einsam. Doch auch die Stille und das Alleinsein können positiv genutzt werden. Zeit für das Ausüben eigener Ideen und das „Produktivsein“ können zur Selbstfindung und dem eigenen Glück beitragen – denn was gibt es Schöneres als seiner eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen. Wie auch Epikur in seiner Theorie schon formulierte „Unter Lust (Glück) versteht man einen Zustand der Gemütsruhe und Ausgeglichenheit der Seele, daher das Freisein von allen Ängsten und Schmerzen.“ Natürlich muss man sich bewusst sein, dass man nie ganz frei von Ängsten oder Schmerzen sein kann, jedoch sollte man zumindest versuchen, gewisse Ängste und Vermutungen bezüglich der Zukunft ein wenig zur Seite zu schieben und sich mehr auf sich selbst (im Sinne des Findens der inneren Ruhe) zu konzentrieren. Dadurch kann einem die derzeitige Krisensituation leichter fallen und ebenso andere Probleme, die sich mit der Zeit aufgestaut haben.                   


Nina, 8MS: Die Pandemie hat uns allen sehr viel abverlangt, aber sie hatte auch positive Seiten. Als Jugendlicher findet man oft im Alltag neben der Schule und den restlichen Pflichten nicht sehr viel Zeit, um sich über sich selbst und um alles Rundherum Gedanken zu machen. Diese Möglichkeit haben wir bekommen und sind zusätzlich von unseren LehrerInnen unterstützt worden. Wir durften in diverse philosophische Theorien hineinschnuppern, haben gelernt, wie die verschiedenen Philosophen die Werte im Leben reihen und in ihrer Lebensweise erreichen. Alles rund um die Frage: „Was ist wichtig im Leben und wie finde ich meinen Weg zum Glück“ (lat. summum bonum). Manches war eher ungewöhnlich und nicht leicht auf unsere Lebensart umzumünzen. Dennoch konnte man aus jeder Ansicht etwas für sich selbst mitnehmen.

Ich persönlich habe mich den Epikureern zugehörig gefühlt. Ihre Einstellung, Lust als das einzig Gute zu sehen, erschien mir am besten zu meiner eigenen Lebensphilosophie zu passen. Damit ist aber nicht der hemmungslose Genuss gemeint, sondern der Zustand der Gemütsruhe und Ausgeglichenheit der Seele und damit das Freisein von allen Ängsten und Schmerzen. Die Umsetzung ist nur meistens das Problem. Ich nehme an, die meisten haben ein paar Bedenken, Sorgen und vielleicht auch Ängste, was die Zukunft angeht. Uns stehen einerseits alle Türen offen, und wir sind kurz davor, den Sprung zu wagen, und doch ist die Unsicherheit, wo es genau hingehen wird, beängstigend. Soll ich lieber den Studiengang nehmen, den meine Eltern mir aufdrängen, oder soll ich es riskieren und meiner Wunsch-Zukunft entgegensteuern, auch wenn sie nicht die gleiche Sicherheit verspricht. Nun ja, ich würde hierzu gerne Epikur zitieren: »Es kommt alles darauf an, dass Du, Mensch, der Du heute und hier lebst, glücklich lebst.«

Wäge es ab, schau, ob dich der Studiengang nicht doch erfüllt und Spaß macht und wenn nicht, hör auf dein Bauchgefühl und mach, was dich glücklich macht. Denn laut Epikur ist nichts festgelegt, und der menschliche Wille frei.                                                              


Erik, 9L: Wir leben in einer Welt, in der Willensfreiheit und Individualismus gefördert werden. Ich glaube deshalb, dass gerade unter uns Schülern die Lehre des Epikur auf viel Zuneigung stößt. Da wir nun aber seit über einem Jahr, der eine mehr, der andere weniger, durch COVID eingeschränkt sind, ist es gerade in diesen schweren Zeiten wichtig, auf die eigne als auch die Gesundheit aller anderen Rücksicht zu nehmen. Jedoch ist es mittlerweile offensichtlich, dass uns Quarantänen und Social-Distancing stark belasten. Viele Menschen fühlen sich einsam und im Stich gelassen. Ich glaube, dass viele Menschen in Zeiten der Reizüberflutung verlernt haben, die Stille mit sich selbst zu genießen. Man muss der Gesellschaft dabei helfen, dass sie sich wieder auf das eigene Glück konzentriert. In der Pandemie für viele unmöglich, doch laut Epikur ist der Weg zum Glück die Freiheit von Angst und Schmerzen, ein Zustand von Gemütsruhe und Seelen-Ausgeglichenheit. All das kann man alleine erreichen. Wir müssen wieder anfangen, auf unser Inneres zu hören. Yoga und Meditation bieten uns viele Möglichkeiten, unsere psychische Gesundheit zu verbessern. Spaziergänge im Wald oder einen Tag auf einem unserer wunderschönen Berge zu verbringen, helfen ebenfalls ungemein, unserer eigenes Glück wiederzufinden. Versucht jetzt das warme Wetter auszunutzen und genießt die Natur! Der Kontakt mit der Natur ist schon immer ein Weg gewesen, um die Seele auf Vordermann zu bringen. Geht an die frische Luft und nutzt unsere großartige Natur in Österreich aus, um diese schwierigen Zeiten zu überstehen! Haltet durch, es wird wieder leichter!           


Larissa, 8S: Ich fühle mich dem Epikureismus zugehörig. Meine Lebenseinstellung ähnelt der epikureischen Lebensphilosophie in einigen Aspekten.

Ich bin Atheist und fürchte mich daher nicht vor Gott. Corona hat mir meine Lebenslust genommen, daher fürchte ich mich nicht vor dem Tod. Das Distance-Learning hat mich gelehrt, die Schule nicht zu ernst zu nehmen und mit minimalem Aufwand gute Ergebnisse zu erreichen. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass man Wissen durch Sinneswahrnehmungen und Erfahrungswerte gewinnt. Niemand kommt allwissend zur Welt. Wir sind nur ein Produkt aus unseren Erlebnissen, mit jedem Ereignis, egal ob positiv oder negativ, lernt man dazu und gewinnt Lebensweisheiten.

Diese philosophische Strömung kann mir in der aktuellen Krise nicht wirklich eine Hilfestellung geben. Was einem in solchen Situationen helfen kann, ist der Glaube an etwas größeres als sich selbst, und dies ist mit dieser Strömung nicht wirklich gut vereinbar. Die Weltanschauung kann einem meiner Meinung nach in der aktuellen Pandemie nicht helfen, aber die Pandemie hat mich dieser Weltanschauung in einigen, bereits erwähnten Aspekten nähergebracht.                                                                                                                         


Anna, 8MS: Ich würde mich in der Krisenbewältigung eher zu den Epikureern zählen, da ich der Meinung bin, dass man sich frei entscheiden kann, ob man das Beste aus dieser Pandemie macht oder nicht. Jeder von uns kann die Möglichkeiten nutzen, die wir haben. Wir können hinaus in die Natur gehen, um frische Luft zu schnappen und uns Zeit nehmen, um uns auf uns selbst zu konzentrieren. Als Schülerin der Maturaklasse glaube ich, dass wir zwar vor viele neue Herausforderungen gestellt wurden, aber dass wir an ihnen gewachsen sind und die Zeit des Lockdowns auch positiv dafür nutzen konnten, uns ohne Ablenkung intensiv auf das Distance- Learning zu konzentrieren. Natürlich wäre es schöner gewesen, einen normalen Abschluss zu haben, mit allem, was dazu gehört, doch für uns selbst können wir entscheiden, uns die positiven Dinge herauszusuchen und uns auf diese zu konzentrieren. Der Epikureer glaubt an den freien Willen und die freie Entscheidungskraft, und mit diesem freien Willen können wir uns aussuchen, ob wir die positiven oder die negativen Seiten sehen.                        


Hannah Dollmann, 8S

Welcher philosophischen Richtung (Stoa oder Epikureismus) fühlst Du Dich am ehesten zugehörig?

lch persönlich fühle mich eher zu der Stoa zugehörig – vor allem, da ich selbst sehr viel vom Schicksal halte. So bin ich derselben Meinung, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht und dementsprechend vorbestimmt ist. Man könnte natürlich annehnen, ich hätte die Freiheit in manchen Dingen willkürlich zu entscheiden, wie mein Lebensweg weitergeht. Allerdings denke ich, dass selbst dies vorbestimmt wird. So ist es also vorbestimmt, welche Entscheidungen ich in meinem Leben treffe und welche Wege ich anschließend einschlage.
Zusammengefasst sind nicht nur die Umstände, in denen wir aufwachen vom Schicksal eingenommen, auch persönliche Entscheidungen nimmt es uns in weitesten Sinne ab.

Inwieweit könnte diese philosophische Strömung Hilfestellung geben, die (persönliche) Krise der aktuellen Pandemie zu meistern?

Im weitesten Sinne könnte man sich diese philosophischen Ansichten als Hilfe dafür nehmen, gewisse Stuationen zu akzeptieren und sich im Großen und Ganzen damit abfinden, dass bestimmte Abschnitte im Leben nun mal so sind, wie sie sind.
Bezogen auf die derzeitige Krise könnte man also z.B. die Ansicht der Stoa reflektieren: Die Pandemie ist vorbestimmt und es ist in Ordnung, denn es soll nun einmal so sein, wie es ist.